Geballte Kompetenz im weißen Kittel
Ein Pharmakologieprofessor im Ruhestand macht eine Weiterbildung zum Allgemeinmediziner
Seit Jahresanfang arbeitet ein Pharmakologieprofessor aus Frankfurt als Weiterbildungsassistent in der Landarztpraxis von Dr. Karl Aeffner (70) in Wietzen: Prof. Dr. Heinfried Radeke (66) fühlte sich nach eigenen Angaben „nicht ausgelastet“, um schon als Rentner den ganzen Tag zu Haus zu sein. Und Dr. Aeffner freut sich über das Feedback und den kollegialen Austausch. „Später wird es auch eine Entlastung geben“, meint der Allgemeinmediziner, der vorhat, noch viele Jahre als Hausarzt in Wietzen seine Patienten zu betreuen. Für Ärzte gibt es keine Altersregelung. Im Gegenteil, die Kassenärztliche Vereinigung (KVN) sei laut Prof. Radeke „hoch erfreut“ gewesen und bezuschusse sogar die Weiterbildung – auch von Medizinern, die eigentlich schon den Ruhestand antreten könnten.
Herr Professor Radeke, können Sie uns etwas über Ihren Werdegang erzählen?
Gern. Ich bin in Asendorf aufgewachsen und später zum Studium nach Hannover gegangen. Nach dem Examen an der MHH war ich zunächst in der Universitätskinderklinik in Göttingen tätig und habe mich danach in Hannover, San Francisco und Cleveland/USA mit klinischer Forschung beschäftigt. Ab 2001 habe ich an der Universität Frankfurt als Immunpharmakologe bis vor kurzem Studenten ausgebildet und betreue dort auch jetzt noch einzelne Doktoranden.
Wie ist es dazu gekommen, dass Sie jetzt in einer Praxis in Wietzen arbeiten?
Ich bin wieder in mein inzwischen verwaistes Elternhaus in Asendorf gezogen, wollte aber den Arztkittel nicht wirklich an den Nagel hängen. Da ich es im familiären Umfeld zunehmend mit praktischer Medizin zu tun hatte, lag es nahe, hier ein neues Betätigungsfeld zu suchen. Die Ärztekammer ermöglicht es inzwischen, Fachärzten anderer Disziplinen nach zwei Jahren Weiterbildung bei hierzu ermächtigten Ärzten die Prüfung in Allgemeinmedizin abzulegen.
Warum muss man eine Weiterbildung absolvieren? Was ein Hausarzt macht, sollte doch jeder im Studium gelernt haben.
Eben nicht, in der Allgemeinmedizin ist, wie auch in anderen Fächern, eine fünfjährige Weiterbildung vorgeschrieben. Das macht Sinn und das ist auch gut so. Meine klinische Erfahrung wird mir allerdings angerechnet.
Was unterscheidet Ihre bisherige Tätigkeit von diesen neuen Herausforderungen ?
Ich hatte es bisher bei meiner Arbeit mit sehr speziellen Fragestellungen zu tun, insbesondere der Immunpharmakologie und Kanzerogenese (Krebsentstehung). Jetzt bin ich täglich mit der ganzen Bandbreite der Medizin vom Säugling bis zur 99-Jährigen konfrontiert, und das ist sehr abwechslungsreich. Keine Sprechstunde ist wie die andere, und es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Vieles habe ich auch seit meiner Studienzeit nicht mehr gesehen.
Was sind Ihre ersten Eindrücke?
Wer meint, Allgemeinmedizin besteht aus Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Rücken, irrt sich gewaltig. Das kommt zwar auch vor, aber oft handelt es sich um Patienten mit zum Teil sehr komplexen Krankheitsbildern. Um hier zu einer Diagnose zu kommen, ist eine Art kriminalistischer Spürsinn erforderlich. Es wird nie langweilig, und das ist gerade das Spannende an dieser Tätigkeit. Und das zu lernen, macht auch Spaß, mir zumindest.
Wie geht man da vor?
Wichtig ist, dass man gezielt nach den Beschwerden fragt und auch scheinbar unbedeutende Details achtsam wahrnimmt. Auch die Vorgeschichte, Familie, Beruf, Hobbys, Wohnverhältnisse und privates Umfeld können hier eine wichtige Rolle spielen. Die eventuell nötige körperliche, technische und Labordiagnostik soll auch eher unwahrscheinliche Krankheitsursachen im Blick haben und zu einem Gesamtbild des Gesundheitszustandes eines Patienten führen. Dabei spielen auch psychische Erkrankungen eine Rolle, die übrigens genauso sorgfältig diagnostiziert werden wie organische Leiden.
Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?
Gerne, aber zum Schutz von Patienten hier nur ein Konstruiertes: Eine reifere Dame war verreist und kam an ihrem Urlaubsort nachts nicht mehr zurecht. Bei einer umfassenden Untersuchung stellte sich heraus, dass sie eine bisher unbemerkte Entzündung, einen deutlichen Mangel an für das Nervensystem wichtigen Vitaminen und infolgedessen auch eine depressive Stimmungslage hatte. Das Wissen um diese Kombination von mehreren Krankheiten war für die Einleitung einer erfolgreichen Therapie sehr wichtig.
Gibt es etwas, das neu für Sie war?
Ja, die aktuellen Leitlinien zur Behandlung der Herzinsuffizienz. Herzschwäche ist eine häufige Erkrankung, die unbehandelt die Lebenserwartung erheblich verkürzen kann. Jetzt gibt es zwar keine neue Wundermedizin, aber eine aktuelle, inzwischen vielfach getestete Kombination von vier zum Teil seit Jahren bekannten und bewährten Medikamenten, die zusammen ihre Wirkung noch einmal deutlich steigern können. Und es ist ein tolles Gefühl, wenn man bei einer Hausbesuchstour solche Patienten sieht, die wieder Treppen laufen können, nachts durchschlafen und keine dicken Beine mehr haben.
Gibt es Beispiele für Unterschiede in der Diagnostik zwischen Landpraxis und Universitätsklinik?
Ja. Ich war zunächst überrascht, dass man die Feststellung einer Lungenentzündung nicht unbedingt von einer Röntgenaufnahme abhängig machen muss. Gerade bei Senioren reicht es, wenn man Hinweise auf niedrige Blutdruckwerte, eine erhöhte Atemfrequenz und Unruhe hat. Das Abhören der Lunge bestätigt dann die Diagnose. So kann die Therapie viel schneller eingeleitet werden und der Erfolg stellt sich eher ein.
Was ist in der Praxis schwerer als in der Universitätsklinik?
In meiner bisherigen Tätigkeit habe ich oft etwas angeordnet, was dann auch genauso gemacht wurde. Davon konnte ich zumindest ausgehen. Jetzt ist eine wertschätzende Kommunikation der Therapieziele mit der Einbindung der Patientenwünsche erforderlich. Zu deutsch, ich muss den Patienten vermitteln, dass meine Medikamentenempfehlung in seinem ureigenen Interesse liegt, sonst nimmt er seine Tabletten möglicherweise nicht ein. Da mache ich mir wenig Illusionen. Zudem stecken hinter einigen Beschwerdebildern auch Zukunftsangst, berufliche und finanzielle Probleme und, gerade jetzt während der Pandemie, Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Hier kann ich jetzt eher etwas bewirken als an der Universitätsklinik, an der diese Themen kaum auf der Tagesordnung standen. Auch die gezielte Überweisung in der Hausarztpraxis ist ein Problem. In der Klinik wurden Konsilzettel ausgefüllt und kurze Zeit danach bekam ich das Ergebnis. In der Praxis warten die Patienten deutlich länger, aber das ist ein anderes Problem.
Sie werden jetzt auch mit Tod und Sterben konfrontiert. Wie gehen Sie damit um ?
Manchmal sterben Patienten ganz plötzlich, aber in der Rückschau finden sich meist Gründe dafür. Ich beginne mich gerade in die Palliativmedizin einzuarbeiten. Es ist gut, dass es sie gibt. Wenn nichts mehr zu machen ist, gibt es immer noch genug zu tun. Aber dieser Satz stammt nicht von mir. Sie verlängert das Leben häufig um eine kurze, aber nicht selten intensive Zeitspanne. Unheilbar kranke Patienten können dadurch fast schmerzfrei und mit wenigen anderen Beschwerden diese Welt verlassen. Das tut nicht nur ihnen, sondern auch den Hinterbliebenen gut. Es ist Teil meiner Weiterbildung zu erfahren, wie man das macht.
Sind Sie auch auf Notfälle vorbereitet?
Ja, in der Universitätsklinik werden alle Abteilungen regelmäßig für Notfälle trainiert. Wichtig ist, die Art des Notfalls zu erkennen, einen gut sortierten Notfallkoffer zur Hand zu haben, die notwendigen Maßnahmen dann routiniert durchzuführen und den Schreck erst später zu verarbeiten. Anästhesisten berichteten mir, ihre Arbeit sei 97 Prozent Routine und drei Prozent eine Sch…angst. Aus der Kinderklinik ist mir noch geläufig, dass man zwischen dem Wechsel von relativer Gesundheit zu schweren Krankheitszuständen kaum Vorwarnzeiten hatte. In einer Landpraxis ist das wesentlich entspannter, aber bereit sein muss man immer.
Haben Sie jetzt schon einen Notfall erlebt?
Ja, einen Asthmaanfall. Ein heutzutage inzwischen sehr selten gewordenes Ereignis. Das Praxisteam war bestens darauf vorbereitet, und so ist alles gut ausgegangen.
Aus DIE HARKE